Wenn der Bock fett ist

B.M. AY

 

„Guten Morgen, mein Lieber“, sagte Horst als sich sein Freund Ahmet meldete. „Ich rufe wegen nächstem Montag an. Den müssen wir leider ausfallen lassen. Ich habe gerade die Zusage für meine Fastenwoche bekommen. In drei Tagen geht‘s los.“

„Deine bitte was!?“ rief Ahmet erstaunt. „Ausgerechnet du mit deinen drei Gramm Speck am Bauch!“

„Ich habe Probleme mit den Gelenken, mit der Verdauung und null Energie. Ich muss weg von dem ständigen Futtern, den vielen kleinen Imbissen, über den Tag verteilt. Ein Cousin von mir war zum Fasten weg und behauptet, er fühle sich wie neu geboren“, erklärte Horst.

Am Montag nach Horsts Fastenkur saßen die beiden bei einem vegetarischen Frühstück in Horsts Küche.

„Keine Sucuk, kein Pastirma? Dafür jede Menge Grünzeug und Obst. Du lässt es gesund angehen, nach deiner Fastenwoche?“ fragte Ahmet, nach einem kurzen Blick über den gedeckten Tisch.

„Sie haben mir gesagt, dass ich gute Chancen auf Linderung meiner Gelenkschmerzen habe, wenn ich weitgehend auf Fleisch verzichte. Also habe ich nichts Derartiges gekauft, um nicht dauernd in Versuchung zu kommen. Ab und an etwas Fisch, auch mal ein kleines Steak wäre schon drin, sagten sie. Ein kleiner Trost, aber ich weiß noch nicht wie ich das „Fleischverbot“ auf die Dauer durchhalten soll“, seufzte Horst.

„Ich denke, dass dir die Aussicht auf Schmerzfreiheit den Verzicht schon versüßen wird“, meinte Ahmet.

Horst winkte ab.

„Dann denk, dass die Steaks Stücke vom toten Tier sind, Leichenteile also“, schlug Ahmet vor. „Oder stell dir vor, dass die Forelle auf deinem Teller kurz zuvor noch fröhlich mit ihren Kumpels umher geschwommen ist.“

„Du hast gut reden!“ knurrte Horst. „Probier’s erst mal aus bevor du hier Vorträge hältst.“

„Obacht!“ rief Ahmet. „Ehe ich nach Deutschland kam, hatte ich vielleicht einmal pro Woche eine Miniportion Fleisch, dafür an mindestens 300 Tagen im Jahr rein vegetarische und auch oft vegane Mahlzeiten auf dem Teller. Und ab dem Tag, an dem ich Mehmet den Dritten ausgeweidet im Hof hängen sah, rührte ich für gut drei Jahre gar kein Fleisch mehr an.“

„Das ist hart“, sagte Horst. „Wer war Mehmet der Dritte – dein Haustier?“

„Irgendwie schon“, antwortete Ahmet leise. „Aber bei uns auf dem Dorf gab es nur Nutztiere. Und die wurden, mit Ausnahme der Katzen und Hunde, letztendlich alle geschlachtet.“ Ahmet schluckte und fuhr dann fort:

„Als ich in der dritten Klasse war, kam mein Vater eines Abends nach Hause – später als gewohnt und mit einem kleinen Ziegenböckchen im Schlepptau. Er reichte mir das Ende des Stricks, den das Tierchen um den Hals hatte und sagte seine Böckchen hätten immer gut auf den Namen Mehmet gehört. In dieser Nacht schlief ich wenig, ging immer wieder nach draußen, um nach Mehmet zu schauen, ihn zu betrachten und zu streicheln. Ich war sehr stolz darauf endlich die lang ersehnte Verantwortung für ein Böckchen zu haben und trabte in den folgenden Wochen jede freie Minute mit meinen Kumpels und deren Böckchen über Stock und Stein, immer auf der Suche nach Leckerbissen für die Tiere. Wir mästeten sie um die Wette, und sie wurden mit jedem Tag zutraulicher. Mein Mehmet entwickelte sich so prächtig, dass er als einer der Ersten unters Messer kam. Mama hatte mich zu Oma geschickt, und als ich wieder nach Hause kam, war Mehmet der Erste bereits zerlegt. Ich habe Rotz und Wasser geheult. Mein Vater erklärte mir sehr verständnisvoll, dass dies die Bestimmung aller Böckchen sei. Er nahm sich so viel Zeit wie ich brauchte, um mich einigermaßen zu beruhigen. Im nächsten Jahr kam Mehmet der Zweite ins Haus. Auch der wurde natürlich geschlachtet, und als ich wieder Zeter und Mordio schrie, ging mein Vater wortlos vom Hof. Im Jahr darauf beschloss ich wenigstens Mehmet den Dritten zu retten, indem ich dafür sorgen wollte, dass er nicht genug fraß um fett zu werden. Leider war Mehmet der Dritte unglaublich verfressen und deshalb sehr schnell schlachtreif. Jeder sah das, nur ich nicht. Entsprechend außer mir war ich, als er dann doch im Hof hing. Mein Vater packte mich am Kragen. Ich sah die entsetzten Augen meiner Mutter, während er mich schüttelte und schrie: „Wenn der Bock fett ist, wird er geschlachtet! Finde dich damit ab. Jedes Jahr so ein Affentheater! Das mache ich nicht länger mit!“ Dann setzte er mich unsanft ab und verschwand – wahrscheinlich ins nächste Teehaus. Mama legte ihr Messer weg, kam zu mir und wusch mir das Gesicht. „Ich mache das auch nicht länger mit! Versprochen!“ sagte sie so laut, dass alle Nachbarn es hören konnten.“

„Und?“ fragte Horst.

„Beide haben Wort gehalten“, antwortete Ahmet. „Mehmet der Dritte war unser letztes Böckchen. Und ich schwor mir nie wieder etwas vom toten Tier zu essen. Gut drei Jahre blieb ich eisern dabei.“

„Wenn der Bock fett ist, wird er geschlachtet?“ murmelte Horst. „Grad wie im richtigen Leben: Erst ködern sie dich mit allerhand Leckereien, und wenn sie dich am Haken haben, hast du plötzlich ihr Messer an der Kehle und bist Ruck Zuck ausgenommen.“