- M. AY
„Also treffen wir uns morgen zum Frühstück wieder bei Hüseyin. Für einen erfolgreichen Start braucht der jetzt jeden einzelnen Gast“, beendete Ahmet das Telefonat.
Was die da draußen wohl gerade brauchen, fragte sich Horst, während er Sonntagsspaziergänger, die vorbei an seinem Küchenfenster auf dem Weg in den nahen Wald waren, beobachtete.
Am Montagmorgen frühstückten sie ausgiebig und gemütlich unter den Augen eines sehr aufmerksamen Gastgebers, der nebenbei noch die Snacks, Suppen und Salate für den mittäglichen Straßenverkauf richtete. Kurz vor zwölf band sich der Wirt eine neue Schürze um. „Ihr habt noch alles, was ihr braucht?“ fragte er.
Wie vom Blitz getroffen zuckte Horst zusammen. „Ja sicher“, beeilte sich Ahmet zu sagen und Horst zugewandt fragte er: „Alles in Ordnung mit dir?“
„Eigentlich schon“, antwortete Horst. „Aber seit du gestern den Hörer aufgelegt hast, geistert das Wort „brauchen“ in allen Variationen durch sämtliche Windungen meines Hirns – mal völlig abstrakt und dann wieder sehr konkret mit Szenen aus meinem Leben. Es ging mit mir zu Bett und saß heute Morgen mit am Küchentisch. Erst als wir vorhin das Bistro betraten, war es plötzlich weg. Bis eben halt.“
Ahmet schwieg und Horst fuhr fort: „Mit 6 dachte ich, wie wunderbar es doch wäre einen Roller zu haben und den Vater, den ich bislang nur von einigen Fotografien kannte, endlich aus russischer Gefangenschaft zurück zu bekommen. Auf einem Trümmergrundstück fand ich schließlich einen rostigen Metallreifen. Den trieb ich einen ganzen Sommer lang rollend auf all meinen Wegen neben mir her.
Mit 8 träumte ich von einem Kettcar zu Weihnachten, geschenkt gar von meinem zurückgekehrten Vater. Im darauffolgenden Frühjahr durchstöberte ich mit einigen Kameraden die Schuppen von Bekannten und Verwandten auf der Suche nach Teilen für eine Seifenkiste.
Mit 11 dachte ich: Wenn ich doch ein Fahrrad hätte. Und ich stellte mir vor, dass meine Eltern mir, endlich wieder vereint, bei der Abfahrt am Gartentor hinterherwinken würden. Mit meinem Großvater habe ich dann ein Altes wiederhergerichtet. Nicht schön, aber es fuhr.“
„Er war einfach nicht da, als du ihn gebraucht hättest, dein Vater. Muss schlimm für dich gewesen sein“, sagte Ahmet.
„Schlimm? Nein! Dafür hat meine Mutter schon gesorgt“, erklärte Horst entschieden. „Als einer der letzten Züge mit entlassenen Gefangenen in unserem Bahnhof eingelaufen war, und wir danach erneut allein am heimischen Küchentisch saßen, fragte meine Mutter, ob ich mir vorstellen könne, dass wir aufhören, uns Hoffnungen auf seine Rückkehr zu machen. Ich habe nur genickt, sehr erleichtert, dass sie dem endlosen – wahrscheinlich vergeblichen – Warten auf den Vater ein Ende machen wollte. Wir versprachen uns noch fest, ihn als die fürsorgliche und gute Seele in Erinnerung zu behalten, als die meine Mutter ihn kennen und lieben gelernt hatte. Und so ist er bis heute ein lebendiger Teil meines Lebens.“
„Mensch sterben erst, wenn sich niemand mehr an sie erinnert“, sagte Ahmet leise.
„Ach, weißt du“, sagte Horst. „Mit dem „Sterben“ ist das so eine Sache. Ich erinnere mich an viele Rückkehrer. Männer, die nicht weiterleben konnten, weil sie im Feld oder in Gefangenschaft nicht gestorben waren. Männer, allein gelassen und völlig überfordert mit der Bewältigung dessen, was sie im Krieg und danach erlebt hatten. Rückkehr in den Alltag mit Familie? Nahezu unmöglich! Die sind für ihre Familien gestorben, nachdem sie scheinbar unversehrt, aber mit den Schrecken des Erlebten in unsichtbaren Rucksäcken, zurückgekehrt waren. Ich hörte Frauen und Kinder abenteuerliche Erklärungen für unübersehbare blaue Flecken und Hautabschürfungen abgeben. Jeder konnte sehen in welchen Familien die häusliche Gewalt besonders schlimm war, aber alle schauten weg.“
„Sowas braucht kein Mensch“, sagte Ahmet nachdenklich.
„Ganz sicher nicht!“ sagte Horst. „Aber ein Dach über dem Kopf, einen Ofen und genug Holz im Schuppen gegen die Winterkälte, eine gut gefüllte Speisekammer gegen den Hunger und eine Handvoll Menschen, die ihn ein Leben lang liebevoll begleiten. Auf alles andere kann man zur Not eine Zeitlang verzichten.“