Schreckgespenst: DE-Industrialisierung (1)  

B.M. AY

 

„Traumhaft ist das hier“, schwärmte Horst und legte sich im Gartenstuhl bequem zurück.

„Besonders wenn man satt ist“, stimmte Ahmet zu.

Die beiden Freunde hatten ihr montägliches Frühstück in Ahmets Schreber-Garten zubereitet und eingenommen. Nun stand das Emaillekännchen mit dem Abschlussmokka in den Resten der Holzkohleglut.

Horst ließ seinen Gartenstuhl in halbe Liegestellung gleiten. „Tomaten, Paprika, Auberginen und Zucchini, gegrillt, gewürzt und mit etwas Olivenöl in Teigfladen gewickelt. Kaum zu glauben, wie satt und zufrieden ein solches Frühstück machen kann“, murmelte er versonnen. „Den Mokka noch und das Glück ist perfekt.“

Ahmet platzierte die kleinen Tässchen auf einem Beistelltisch neben Horst und sich selbst im Liegestuhl auf der anderen Seite. „Und das ganze Gemüse frisch gepflückt hier aus dem Garten“, sagte er noch bevor er weg dämmerte.

Eine Stunde später weckte Ahmet Horst mit den gefüllten Mokka-Tässchen auf dem Beistelltisch. „Der ist gerade richtig, ganz langsam in der Glut gezogen“, sagte er grinsend, als er Horsts zweifelnden Blick sah.

Sie schlürften ihren Mokka. Er war köstlich.

„Hast du gut geschlafen?“ fragte Ahmet.

„Weiß nicht“, antwortete Horst. „Ich hatte einen Traum: Eine gefühlte Ewigkeit bin ich durch einen dieser neuen, riesigen Supermärkte getigert, immer hin und her zwischen endlosen Regalreihen überfrachtet mit abgepacktem Fertigfraß. Obst- und Gemüseabteilung? Fehlanzeige! Da wollte ich nur noch nach draußen – wenngleich ich mich schon vor leerem Kühlschrank verhungern sah. Allein, den Ausgang konnte ich auch nicht finden. Ich fragte einige andere Kunden danach. Aber die zuckten nur mit den Schultern und sahen mich verständnislos an. Eine Frau sagte schließlich:  Ausgang? Sie wollen raus? Sie wissen schon, dass Sie sich hier im Paradies befinden. Ist Ihnen überhaupt klar, was Sie dort draußen erwartet? Die reine Hölle, sage ich Ihnen! – Die wollte überhaupt nicht mehr aufhören mit ihrem apokalyptischen Gezeter. Gut, dass du mich geweckt hast. Und dass ich hier in deinem himmlischen Garten aufgewacht bin.“

„Tja, so verschieden sind die Vorstellungen der Menschen: des einen Hölle ist des anderen Himmelreich“, stellte Ahmet trocken fest. „Die Frau in deinem Traum hätte mit der reichen Ernte hier im Garten eher nichts anzufangen gewusst.“

Horst holte tief Luft. „Wenn es nach mir ginge, könnte man diese Märkte auf ein Drittel ihrer derzeitigen Größe schrumpfen: Viele der Regale mit dem ganzen abgepackten Mist rauswerfen und den Rest wirklich übersichtlich aufstellen, damit Einkäufe wieder zügig erledigt werden können und genügend Zeit für die Zubereitung von frischen Mahlzeiten bleibt. Die Vermarktung von Obst und Gemüse wieder mehrheitlich den Erzeugern überlassen und so weiter!“ schnaubte er.

„Horst!“ rief Ahmet. „Bei mir rennst du da offene Türen ein. Aber du bist dir schon darüber im Klaren, dass du damit eine ganze Industrie in den Ruin treiben würdest!“

„Also mein Mitleid mit denen hält sich sehr in Grenzen! Die Welt kann mit Sicherheit gut und gerne auf Konzerne verzichten, die raubzugartig durch aller Herren Länder streifen, für gute Grundnahrungsmittel Preise aufrufen, die den Erzeugern kein menschenwürdiges Leben ermöglichen, die die ergaunerten Rohstoffe dann zu undefinierbaren Handelsgütern verarbeiten und uns glauben machen, dass es sich dabei um wertvolle, gesunde Lebensmittel handelt“, wetterte Horst.

„De-Industrialisierung des Lebensmittelsektors also – wäre das denn erstrebenswert?“ fragte Ahmet.

„Nachdem ich in einer Reportage, in der es um gesunde, bezahlbare Ernährung ging, gefühlt 200 mal das Wort Industrie gehört habe, dachte ich: Okay, wenn viele aufhörten den ganzen Fertigmüll zu konsumieren, hätten wir wohl eine erhebliche Deindustrialisierung. Genau das präsentiert die Regierung UNS seit Monaten als Schreckgespenst. Doch ist es das wirklich? Und um den Verlust welches und vor allem wessen Wohlstands geht es dabei eigentlich? Der gesundheitliche Wohlstand des Konsumenten würde sich jedenfalls erheblich verbessern. Das führte zu einer Reduktion der Kosten zur Behebung ernährungsbedingter Krankheiten. Die dadurch freiwerdenden Mittel wären in den Bereichen Klimaschutz und Soziales gut, sinnvoll und zukunftsweisend zu investieren“, sagte Horst.

„So gesehen könnte UNS eine Deindustrialisierung, zumindest auf dem Lebensmittelsektor, hoch willkommen sein“, stellte Ahmet fest.

Fortsetzung folgt