B.M. AY
Als Ahmet geendet und schweigend zum Küchenfenster hinaussah, beschloss Horst frischen Tee aufzusetzen, vielleicht in der Vorahnung, dass sein Freund mit dem Thema noch lange nicht durch war.
Mit einem großen Glas Tee holte er Ahmet schließlich an den Küchentisch zurück. Der griff mit der ganzen Hand in die Zuckerwürfelschale auf dem Tisch. Dann ließ er insgesamt 10 Würfel in das Teeglas gleiten.
„Hoppla“, fuhr es Horst heraus.
„Das haben Oma und Tante Nimet auch so gemacht, wenn sie etwas Schwieriges zu besprechen hatten. Heimlich versteht sich, denn Zucker war damals eine Kostbarkeit“, kicherte Ahmet. „Dass ich oft dabei war und sie beobachtete? Sie gingen wohl davon aus, dass der Kleine eh nix mitkriegt“, erklärte Ahmet mit einem verschmitzten, nostalgischen Lächeln. „Nur schade, dass der Zucker heutzutage so billig ist. Da wirkt er nicht mehr so gut gegen die Widrigkeiten des Lebens.“
„Haben Tante Nimet und deine Oma nach dem Erdbeben denn noch oft solch süßen Tee getrunken?“ fragte Horst.
„Leider nicht“, antwortete Ahmet. „Knochenbrecher-Mehmet hat ihr den Unterschenkelbruch zwar gerichtet, aber nach ein paar Tagen bekam sie hohes Fieber und ein Arzt war nicht greifbar.“
„Und wie ging es mit euch weiter?“ fragte Horst
„Opa hatte uns ja mit Mama und Oma auf den Festplatz geschickt, wo er mit Papa gegen Mittag ebenfalls eintraf. Am späten Nachmittag erschien Akbas am Rande des Platzes. In sicherer Entfernung – das heißt bei uns: etwas weiter als ein Mensch einen Stein zu werfen vermag – legte er sich im Schatten einer Steinmauer ab. Mit einem großen Stück Brot wischte Papa wischte seinen Suppenteller aus, reichte mir den Bissen und sagte: „Gib’s ihm. Er wird auch Hunger haben.“ Erleichtert über die Abwechslung, hüpfte ich fröhlich zu unserem Hund hin, gab ihm das Brot und legte mich neben ihn. Der Kangal ist eine alte anatolische Herdenschutzhunderasse. Neben Akbas, der wahrscheinlich das Dreifache auf die Waage brachte wie ich damals, konnte ich mich, auf die Erde gekauert, fast unsichtbar machen. Oma sagte mal zu Papa: „Dass sich der Bub mir nicht zu sehr an den Hund gewöhnt! Wenn dem eines Tages etwas zustößt, gibt das ein großes Drama.“ Schon bald kam Papa in unsere Richtung, rief Akbas zu sich und schickte mich zu Mama zurück. In der Abenddämmerung kam er wieder und erklärte, dass wir die Nacht in Tante Nimets Haus verbringen würden. Er hatte es zusammen mit kundigen Nachbarn inspiziert und für sicher befunden. Mama wollte lieber im Innenhof unseres Hauses übernachten, aber Papa schüttelte entschieden den Kopf. „Ich bin mit Akbas dort gewesen. Der wollte noch nicht mal durch unser Hoftor in den Garten schnuppern. Es sind Nachbeben zu erwarten. Der Hund muss gestern Abend schon gespürt haben, dass Unheil bevorstand. Der Hang an den Tante Nimets Haus gebaut ist, scheint sicherer zu sein als unser Tal. Jedenfalls sind ein Großteil der Viehherden und Bayrams Lastenesel dort oben“, sagte er.“
„Hat das Beben denn großen Schaden angerichtet?“ fragte Horst.
„Verglichen mit dem Beben jetzt? Nein! Wir hatten eine Handvoll Tote, so wie Tante Nimet, nochmal so viele Verletzte und ein paar Häuser zu richten“, antwortete Ahmet.
„Immerhin!“
„Als wie groß du einen Schaden empfindest, ist immer auch eine Frage der Einstellung. Für uns war der Tod damals allgegenwärtig. Auch mit den Erdbeben hatten wir unsere Arrangements – statt uns arrogant und abgehoben blind dagegen zu stemmen“, sagte Ahmet nachdenklich.
„Früher war also alles besser?“ fragte Horst.
„Nein, ganz sicher nicht. Aber was du mit eigener Muskelkraft, ein paar Winden und Zugochsen maximal zweistöckig errichtet hast, kannst du genauso auch beiseite räumen, um Menschen schnell darunter hervorzuholen oder Reparaturen schnell selbst vorzunehmen. Wir hatten alles was wir brauchten am Ort, waren also nicht angewiesen auf Hilfe von außen und ihr auch nicht ausgeliefert. Jeder packte bei jedem mit an, selbst alte Fehden ruhten für die Zeit des großen Aufräumens und Reparierens“, antwortete Ahmet.
„Das war doch wohl selbstverständlich, oder?“ fragte Horst.
„War!? Genau! Waaaar! Aber wie ist das heute!“ rief Ahmet zornig. „Die Erde unter ihren Füßen ist noch in Bewegung, da beginnen sie schon hitzige Debatten darüber wer wem welche Hilfe leisten darf und wer das gefälligst zu lassen hat. Das musst du dir mal reinziehen! Mensch!“