Unfassbar? – Verantwortung übernehmen!

 

B.M. AY

 „Du siehst bedrückt aus“, stellte Horst fest, als sie an diesem Montag beim Abschluss-Mokka saßen.

„Hhm“, murmelte Ahmet

„Das Erdbeben?“ fragte Horst.

„Ja.“

„Schrecklich, so viele Tote. Mein Beileid“, sagte Horst.

„Die Zahl der Toten wird in die Zehntausende gehen“, sagt Ahmet tonlos.

„Wie kommst du denn darauf?“ fragte Horst.

„Ich habe die Bilder gesehen. Ich bin erdbebenerfahren und ich kann rechnen“, erklärte Ahmet trocken.

„Willst du darüber reden?“ fragte Horst.

„NEIN!“ antwortete Ahmet bestimmt.

Einfach das Thema wechseln, nur um weiter reden zu können? Völlig daneben! dachte Horst und begann wortlos mit dem Abwasch. Eine ganze Weile war nur das Klappern des Geschirrs im Raum zu hören.

Dann fing Ahmet plötzlich an zu reden:

„Immer wenn ich von Erdbeben höre, erinnere ich mich an mein Erstes. Wir hatten einen schönen Abend verbracht, mit selbstgemachter Baklava von der neuen Walnussernte und anderen Leckereien wie Haselnüssen, Mandeln, getrockneten Feigen und Rosinen. Zu später Stunde beschlossen die Erwachsenen, dass die Alten bei uns übernachten sollten. In unserem Wohnraum entrollten Mama und Papa Matratzen auf dem Dielenfußboden: für sich selbst und uns Kinder, für Oma und Opa und Tante Nimet, Omas Kusine. Während Mama frische Laken für die Gäste zum Zudecken heraussuchte, ging Papa nach draußen, um das Hoftor zu verriegeln. Wie jeden Abend öffnete er es zunächst für einen kurzen Blick auf die Straße und um Akbas, unseren Hund, der jeden Abend geduldig davor auf Einlass wartete, für die Nacht in den Hof zu lassen. Akbas hatte seinen Platz zwischen Hoftor und Toilette, wo meist schon sein Freund, der Kater Kara, auf ihn wartete. Kara kam und ging wie es ihm beliebte, schnürte über Gartenmauern und Dächer, um zwischen den Innenhöfen der Häuser und der Straße zu wechseln.“

„Akbas war nicht draußen, sagte Papa zu Mama, als er sich neben sie legte. Er wird eine Verabredung haben, scherzte Mama. Kara ist auch nicht auf seinem Platz, hörte ich Papa noch flüstern, bevor ich einschlief. Die Nacht war angenehm kühl. Wir schliefen tief und fest, bis uns im Morgengrauen ein Schlag jäh aus dem Schlaf riss. Es war als hätte ein gigantischer Riese mit voller Wucht gegen das Haus getreten. Mama! rief ich und schon trat der Riese ein zweites Mal gegen das Haus. Fast gleichzeitig fing das ganze Haus an zu vibrieren, die Holzbalken unter und über uns ächzten und überall tanzte das Geschirr klappernd in den Regalen. Die Erwachsenen waren sofort auf den Beinen. Papa nahm mich mitsamt meinem Laken von der Matratze auf, erklärte mir ganz ruhig, dass dies nur ein Erdbeben sei und stand mit wenigen Sätzen auch schon mit mir im Freien im Hof. Ich sah mich um: Mama, Oma, Opa, meine beiden Geschwister. Hinter uns barst einer der dicken Dachbalken, Ziegel rutschten ab und zerschellten am Boden. „Nimet!“ schrie Oma und stürzte zur Veranda. Papa fing sie ab und zerrte sie zurück in die Mitte des Hofs. Dort packte Opa Oma an beiden Armen und schüttelte sie. „Du nimmst jetzt deine Tochter und die Kinder und verschwindest von hier“, herrschte er sie an. Damit schob er uns alle zum Hoftor hinaus. „Ihr wartet auf dem großen Festplatz auf uns. Das hier ist erst mal Männersache!“ rief Papa uns hinterher.“

„Es war schon fast Mittag, als Opa und Papa zusammen mit anderen Männern auf dem Festplatz eintrafen. Sie nahmen von der Suppe, die die Frauen auf offenen Feuern warmhielten, und begannen zu berichten. „Nimet?“ fragte Oma endlich. „Wir haben sie zusammen mit Nachbarn rausgeholt und ins Haus von Schreiner Mustafa gebracht. Sie ist verletzt. Geh zu ihr. Sie wird dich brauchen“, antwortete Opa.“

„Das muss schlimm für dich gewesen sein“, sagte Horst, nachdem Ahmet eine Weile geschwiegen hatte.

„Nein“, erklärte der bestimmt. „Wir Kinder hatten erfahrene Erwachsenen um uns. Sie vermittelten uns die Gewissheit, dass uns nichts passieren kann. Aber was Menschen, während und nach den jetzigen, wirklich verheerenden Beben widerfahren ist, lässt sie verzweifeln an der Ungewissheit, was ihnen alles noch passieren wird. Das ist unfassbar schlimm. Weißt du, als ich Kind war, gab es bei uns keine Ingenieure, keine Bauaufsicht, keine Erdbebenversicherung…. Aber Menschen, die sich füreinander verantwortlich fühlten. Wurde ein Haus gebaut, taten alle ihr Bestes, um den größtmöglichen Schutz für die zukünftigen Bewohner zu gewährleisten. Und darauf war verdammt nochmal Verlass!“