Es wird kalt werden
B.M. AY
„Bei Hüseyin also?“ fragte Ahmet. „Wir könnten aber auch zu Aydin gehen.“
„Lass uns doch einfach mal wieder bei mir in der Küche frühstücken. Ich richte alles her und du kannst eine von euren Spezialitäten beisteuern“, antwortete Horst.
„Alles in Ordnung bei dir?“ forschte Ahmet. „Du wirst dich doch nicht wieder zuhause einigeln wollen? Gegenvorschlag: Wie haben herrliches Herbstwetter. Ich richte das Montags-Frühstück in unserem Garten aus.“
„Klingt super!“ rief Horst. „Das Milchlädchen und der Bäcker liegen auf dem Weg. Käse, Butter und Baguette bringe also ich mit.“
Am Montagvormittag saßen die beiden gut gelaunt vor der Gartenhütte, mümmelten die Brotzeit und schlürften bernsteinfarbenen Tee.
„Schscht, Hörst du das?“ fragte Horst plötzlich. Aus der Ferne war ein Schnarren in der Luft zu hören. Leise erst, dann schwoll es zu einem fast ohrenbetäubenden Lärm an und die ersten Vögel tauchten am Himmel über ihnen auf. Minutenlang sahen die beiden Männer, überwältigt von dem Natur-Schauspiel, nach oben bis endlich auch die Nachhut vorübergezogen war, und die Reiserufe der Vögel sich langsam in der Ferne verloren.
„Die Kraniche fliegen in den Süden“, sagte Horst. „Ab jetzt wird`s kalt werden.“
„Kaum vorstellbar, bei dem freundlichen Wetter heute“, antwortete Ahmet mit Blick auf das Thermometer an der Hüttenwand. „Achtzehn Grad. Sind die nicht reichlich früh dran?“
Horst zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Ich müsste mal nachschauen, wann sie sich üblicherweise auf den Weg machen.“
„Beneidenswert“, seufzte Ahmet. „Es wird kalt und sie hauen ab in den warmen Süden.“
„Weil sie keine andere Wahl haben“, sagte Horst. „Ihr Überleben hängt davon ab. Genau genommen sind wir die Beneidenswerten. Wir haben die Wahl. Es wird kalt und Menschen können am Ort zusammenrücken, Schutz finden in der Gemeinschaft, bis nach strengem Frost wieder wärmere Tage kommen. Natürlich kann sich auch jeder von uns zusammenrollen und all seine Stacheln nach außen kehren, damit ihm ja keiner zu nahekommt. Oder wir nehmen den nächsten Flieger nach Süden.“
„Wir haben also die Wahl? Schlagen aber aus Egoismus, Gier, Neid und Torheit oft den falschen Kurs ein? Ich überlege gerade, ob wir mit einem genetisch festgelegten Verhalten nicht sehr viel besser dran wären“, antwortete Ahmet.
„Schwer zu sagen. Die Kraniche haben jedenfalls ein Programm, dass ihnen sagt wann für was die Zeit reif ist, damit möglichst viele von ihnen schwere Zeiten überleben. Und sie fahren seit Jahrtausenden gut damit“, sagte Horst nachdenklich.
„Bei uns auf den Dörfern hieß das Überlebensprogramm früher Zusammenhalt“, sagte Ahmet. „Darauf konnte jeder vertrauen, der die Regeln der Gemeinschaft halbwegs einhielt. Zusammenhalt trug die Gemeinschaft durch schwere Zeiten, in denen der Einzelne allein meist nicht die Spur einer Überlebenschance gehabt hätte. Um 1900, als meine Oma jung war, zogen oft marodierende Banden über Land, rekrutiert und bewaffnet von weiß der Geier wem. Meine Oma war früh Witwe und ist mit ihren beiden Kindern immer besonders auf den Schutz der Dorfgemeinschaft angewiesen gewesen.“
„Uns ist das Verständnis für die Vorzüge des Zusammenhalts während der letzten Jahrzehnte abhandengekommen“, erklärte Horst. „Den Menschen schien das Leben in der Gemeinschaft eher Einengung als Schutz zu sein. Der Individualismus verkaufte sich als Lösung für alle zwischenmenschlichen Probleme. Über die Jahre begann sich alles um ein scheinbar allmächtiges ICH zu drehen, dem angeblich alle Türen offen stehen, wenn es nur genug Willensstärke und Disziplin an den Tag legt.“
„Gegen den Lauf der Natur ist der menschliche Wille doch öfter recht machtlos“, lachte Ahmet ein.
Horst nickte. „Völlig sinnlos dagegen aufzubegehren. Der Lauf der Natur hilft auch uns über karge Zeiten. Nur, wer glaubt, dass die Natur für jeden Einzelnen eine Extraeinladung ausstellt und ihn dann auch noch irgendwo aufsammelt, wenn er den großen Zug verpasst hat, der wird wenig Überlebenschancen haben.“
„Zusammenhalt ist also unser Programm, das wir auch in guten Zeiten aktiv pflegen müssen, um zu überleben, wenn die Not mal groß werden sollte“, stellte Ahmet fest.