B.M. AY
„Schön, dass ihr mal wieder hier seid“, freute sich der Besitzer des Café Aydin. „Euer Abschluss-Mokka geht heute auf meine Rechnung.“
„Einverstanden“, antwortete Ahmet. „Allerdings hätte ich vorher gerne noch ein großes Glas von deinem köstlichen Tee. Der hat mir schon sehr gefehlt in letzter Zeit.“
„Mir auch“, stimmte Horst ein. „Zeit habe ich ja genug.“
„Du hast Zeit? Hab ich was verpasst? Fehlt dir was?“ prustete Ahmet lachend.
„Ja! Vielleicht! Nein!“ antwortete Horst verschmitzt.
„Quatsch bloß keine Opern, Mann!“ rief Ahmet. „Ich versteh dich auch so voll und ganz!“ Dann beugte er sich über den Tisch und flüsterte: „Nicht nur im Kaffeesatzlesen bin ich unschlagbar. Auch beim Gedankenlesen kann mir keiner das Wasser reichen.“
„Also, Klartext?“ fragte Horst grinsend und fuhr fort: „Seit ich vor etwa vier Wochen begonnen habe meinen Nachrichtenkonsum schrittweise herunter zu fahren, habe ich einen enormen Zuwachs an freier Zeit zu verzeichnen. Anfangs hatte ich richtige Entzugserscheinungen, war unruhig, hatte Angst etwas Wichtiges zu verpassen. Außerdem musste ich nach über zwei Jahren – seit Pandemiebeginn war ich an allen möglichen Nachrichtenkanälen buchstäblich verfallen gewesen – die plötzlich wiedergewonnenen Stunden und Minuten neu gestalten und habe dabei festgestellt, dass einfaches Nichtstun Balsam für die Seele ist, also sehr viel Sinn macht.“
„Dein Nachrichtenfasten in allen Ehren, aber warum gerade jetzt, wo dieser schreckliche Krieg im Gange ist“, unterbrach Ahmet.
„Weil ich all das nicht mehr verarbeiten konnte“, erklärte Horst. „Es ist ja nicht so, dass ich mir die Nachrichten reinziehe und irgendwo abspeichere. Nein, sie beginnen in meinem Kopf zu kreisen sobald ich sie aufgesogen habe. Sie werden abgeglichen mit Ereignissen aus vergangenen Zeiten und liefern Stoff für Zukunftsszenarien. Eines Abends lief es mir dann eiskalt den Rücken hinunter, als ich zum x-ten Mal las, dass Millionen Tonnen Getreide in der Ukraine zu vergammeln drohen, weil Russland den Transport über das Schwarze Meer blockiert und dann auch noch hörte, dass der durch den Krieg verursachte Getreidemangel weltweit weitere 50 Millionen Menschen in die Nähe des Hungertodes treiben wird. Schlagartig war mir klar, dass dieser Krieg nur vordergründig mit Panzern und Raketen und in der Ukraine geführt wird, während der eigentliche Plan, nämlich Millionen von Flüchtlingen mit der Hungerkeule nach Europa zu treiben, mit jedem Kriegstag mehr zum Selbstläufer wird, ganz egal ob ich, du oder wir alle uns im Einzelnen damit beschäftigen oder nicht.“
„Der Geld-Hunger derer, die die Globalisierung so vehement voran getrieben haben, hat uns in den letzten 30 Jahren hier zehntausende von Arbeitsplätze weggefressen, in vielen Ländern zu massiver Abwanderung der Landbevölkerung in die Slums der Metropolen geführt, Menschen ihrer kulturellen Wurzeln und die Flora und Fauna ihrer intakten Urwälder beraubt, tradiertes Wissen über eine den örtlichen Gegebenheiten angepasste Landwirtschaft buchstäblich in den Staub getreten und gleichzeitig unendlich viel Geld in die Kassen einer Handvoll Konzerne gespült“, grollte Ahmet.
„Eben! Und jetzt? Wieder sind es einige wenige, die aus Profit- und Machtgier weltweit die rechtmäßigen Grundbedürfnisse ihrer Mitmenschen mit Füßen treten. Die Globalisierung der Ausbeutung von Mensch und Natur muss hier und heute überführt werden in eine Globalisierung des Teilens sonst….“
„Richtig!“ unterbrach Ahmet. „Aber ich fürchte, dass wir damit besser schon vorvorgestern hätten anfangen sollen. Stattdessen sind wir im Schweins-Galopp auf dem Weg
zur Globalisierung des Hungers!