Jetzt erst recht

 

 

B.M. AY

 

 

„Ein alter Bekannter von uns beiden hat vorgestern ein schnuckliges Bistro im Industriegebiet eröffnet, ganz in der Nähe der ehemaligen Gießerei“, sagte Ahmet. „Lass uns am nächsten Montag doch dort frühstücken.“

 

„Gute Idee“, antwortete Horst. „Und wer wird uns bewirten?“

 

„Lass dich überraschen“, sagte Ahmet.

 

Am darauffolgenden Montag saßen sie nach dem Frühstück mit ihrem Gastgeber Hüseyin, einem ehemaligen Arbeitskollegen aus der Gießerei, bei einem letzten Glas Tee zusammen am Tisch.

 

„Da eröffnest du klammheimlich ein Bistro. Ganz schön mutig, in Zeiten wie diesen“, sagte Horst anerkennend. „Und noch dazu in deinem – wie soll ich sagen? – Alter.“

 

„Ich bin ja nicht alleine“, antwortete Hüseyin. „Meine Frau ist mit an Bord und die Kinder auch. Für mich ist es ein Jugendtraum. Ich komme aus einem größeren Dorf in der Türkei. Mit Abschluss der Grundschule, also nach der fünften Klasse, schickte mich mein Vater beim Dorf-Schreiner in die Lehre. Das war kein Zuckerschlecken, kann ich euch sagen. Unter den Kollegen war ich der Kleine Bub, dem sie alle Botengänge und Reinigungsarbeiten aufdrückten. Schon beim Verlassen der elterlichen Wohnung am Morgen begann mein Magen gegen den langen Arbeitstag zu rebellieren. Ich musste mich unglaublich anstrengen, um von den Gesellen auch nur ansatzweise ernst genommen zu werden. Eines Abends winkte mich Mehmet Amca, der Besitzer eines Teehauses, das auf meinem Nachhauseweg lag, zu sich. Er habe, sagte er, hinter der Theke ein Schränkchen, bei dem seit geraumer Zeit die Türen klemmten. Und da ich seit zwei Jahren bei Schreiner-Hassan arbeite, könne ich mir das doch sicher mal anschauen. ICH?! Völlig überrumpelt stimmte ich zu und konnte die Türen tatsächlich richten. Zum Abschied klopfte mir Mehmet Amca auf die Schulter und sagte: „Ab morgen früh kannst du hier bei mir deinen Tee trinken.“ Und meinen unschlüssigen Blick auffangend, fügte er hinzu: „Kostenlos, oder sagen wir gegen die eine oder andere anfallende Reparatur. Mit deinem Können brauchst du dich vor niemandem zu verstecken.“ Ziemlich betäubt ob der gelungenen Reparatur und dem dafür empfangenen Lob ging ich nach Hause. Am nächsten Morgen trat ich leichten Fußes durch unser Gartentor auf die Straße. Mehmet Amca wies mir einen Platz in seinem Lokal an und servierte den versprochenen Tee zusammen mit einigen freundlichen, wohlwollenden Worten für den Tag. Von diesem Tag an war das morgendliche Bauchgrummeln wie weggeblasen. Der Stammplatz im Teehaus gab mir eine gehörige Portion Selbstvertrauen, denn er bedeutete auch die Aufnahme in die Männerriege der Dorfgemeinschaft. Bei uns hat jeder Mann sein Teehaus, wo er allmorgendlich mit dem Tee eine kleine Portion dessen bekommt, was ihr hier Coaching nennen würdet. Auch später noch, wenn mich die Stürme des Lebens ordentlich beutelten, versetzte ich mich gerne zurück an meinen Stammplatz im Teehaus von Mehmet Amca. Und gleich erschien mir die Welt ein bisschen freundlicher und lebenswerter. Und jetzt? Freue ich mich einfach darauf für einige meiner Gäste – ganz besonders die Jungen – ihr Mehmet Amca sein zu dürfen.“

 

„Wunderbar! Mit der geballten Lebenserfahrung des Alters etwas Neues aufzubauen, das auch der nächsten Generation noch reichlich Früchte tragen soll. – Insallah“, sagte Ahmet.

 

„Vielen Dank!“ sagte Horst auf dem Nachhauseweg.

 

„Für das Frühstück?“ fragte Ahmet.

 

„Dafür natürlich auch“, antwortete Horst lachend. „Ein gut gefüllter Ranzen hebt die Laune ungemein. Es war wie im Café AYDIN. Du trittst ein, setzt dich hin und die ganze Welt bleibt außen vor. Nicht das Ambiente und die Speisen sind entscheidend, sondern die Gastgeber, die dich empfangen.“

 

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her.

 

„Trotzdem“, sagte Horst plötzlich nachdenklich. „Ganz schön mutig, gerade jetzt. Ich an seiner Stelle….“

 

„Ach weißt du“, unterbrach ihn Ahmet schmunzelnd „Das versteht nur, wer das orientalische „Jetzt-Erst-Recht-Gen“ in sich trägt. Von außen betrachtet sieht unser Handeln oft abenteuerlich aus. Aber wir schöpfen Kraft daraus und trotzen so vielen Widrigkeiten des Lebens – gerade in Zeiten, die düster sind und es auf unabsehbare Zeit zu bleiben scheinen.“

 

„Und du? Trägst auch du dieses Gen in dir?“ fragte Horst.

 

„Worauf du deinen A… wetten kannst“, erklärte Ahmet grinsend. „Aber es kann nicht jeder ein Bistro eröffnen.“

 

„Wenn unser Hüseyin den Mut hat, sich ausgerechnet jetzt selbstständig zu machen, dann sollten auch wir den Kopf nicht hängen lassen. Jetzt erst recht nicht!“ rief Horst heiter.