Corona-Wechselbad

B.M. AY

 

„Das ist ja nicht zu fassen!“ rief Ahmet, als er im Türrahmen stehend seine Blicke über die Anrichte in Horsts Küche schweifen ließ.

 

„Überraschung?“

 

„Überraschung!“ lachte Ahmet. „Und was für eine!“ Dann trat er an die Anrichte, um die einzelnen dort ausgebreiteten Leckerbissen Stück für Stück in Augenschein zu nehmen.

 

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„Du hast es also geschafft?“ fragte Ahmet mit zufriedenem, erleichtertem Lächeln, als er den Abschluss-Mokka auf den Tisch stellte. „Nach fast vier Wochen warst du alleine einkaufen. Und du musst die halbe Stadt abgegrast haben, so vielfältig wie dieses Frühstück heute Morgen ausgefallen ist? Wie mich das für dich freut. Du kannst richtig stolz auf dich sein.“

 

„Dein Verdienst, mein Lieber“, antwortete Horst leise. „Und ja, stolz bin ich auch – darauf einen Freund wie dich zu haben.“

 

„Ehrensache. Das gleiche hättest du für mich doch auch getan“, erwiderte Ahmet etwas verlegen.

 

„In diesen Zeiten hat nicht jeder einen so treuen Freund“, antwortete Horst ernst. „Während der ganzen Wochen, die du ausnahmslos jeden Tag hier aufgetaucht bist, um mich nach draußen zu nötigen, habe ich mich oft gefragt, was Menschen, die keine Familien in der Nähe und auch keinen Ahmet haben, in dieser Krise wohl tun. Wie geht es ihnen? Wie lange dauert es, bis jemand merkt, dass sie sich draußen nicht mehr sehen lassen, oder sie auf andere Weise extrem unter dieser Pandemie leiden?“

 

Ahmet nippte vorsichtig an dem brühheißen Mokka. „Wenn du, aus welchem Grund auch immer, niemanden hast, den es nicht kalt lässt, wie es dir geht, siehst du verdammt alt aus. Ich erinnere mich noch sehr gut an mein erstes Jahr in Deutschland. Gott, wie lang ist das jetzt her. Fremdes Land, fremde Sprache, fremde Menschen, Doppelschichten, danach nichts als Essen und Schlafen in einer ziemlich heruntergekommenen Unterkunft. Ich war gerade drauf und dran in meine Heimat zurück zu gehen. Da legte mir ein deutscher Arbeitskollege die Hand auf die Schulter und fragte mich wie es mir geht. Ich war so verdutzt, dass ich nicht gleich antworten konnte“, erzählte er nachdenklich.

 

„Verdutzt? Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen!“ rief Horst lachend. „Den Ausdruck darin kann ich bis heute nicht mit Worten beschreiben. Aber ich wusste: Der braucht ein offenes Ohr und einBier.“

 

„War verdammt gut, das Bier“, versicherte Ahmet grinsend. „Du natürlich auch. Wir waren ziemlich blau am Ende jener Nacht. Aber als ich am nächsten Morgen aufwachte, beschloss ich, mir eine bessere Bleibe zu suchen und meine Frau zu fragen, ob sie nachkommen will. Seit jener durchzechten Nacht verdanke ich dir viele gute Jahre, auf Arbeit und auch sonst. Ich hatte die Gewissheit: Wenn ich mal nicht weiterweiß, dann ist da ein Horst, der mir beispringt.“

 

„Das ist ja interessant“, sagte Horst verwundert. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du mich jemals wirklich in Anspruch genommen hast.“

 

„Alleine das Wissen, dass ich im Notfall auf dich zählen kann, hat mich an allen Herausforderungen der letzten Jahrzehnte wachsen lassen. Einen kleinen Teil davon wollte ich dir während der letzten Wochen zurückgegeben“, erklärte Ahmet.

 

„Ich denke es ist an der Zeit wieder regelmäßig bei Bauswein oder im Café Aydin zu frühstücken“, wechselte Horst unvermittelt das Thema.

 

„Wem sagst du das“, antwortete Ahmet. „Ich befürchte nur, dass uns die vierte Welle schon sehr bald wieder einen Lock-Down beschert.“

 

Horsts Miene verfinsterte sich augenblicklich. „Das denke ich auch“, knurrte er. „Aber ich versuche es so gut wie möglich zu verdrängen. Dieses Virus beherrscht unser ganzes Leben, entscheidet mit wie viel Leuten wir uns wo treffen dürfen, wann man uns wo einlässt oder eben auch nicht.“

 

„Letzteres entscheidet die von uns gewählte Regierung, nicht das Virus“, widersprach Ahmet.

 

„Macht das einen Unterschied? Heute erzählt man uns, dass das Virus unter Kontrolle sei. Wenige Wochen – oft auch nur einige Tage – später jagt eine Mahnung zur Kontakteinschränkung die nächste. Intensivstationen laufen voll…. Dieses ständige und vor allem abrupte Wechselbad zwischen Siegesmeldungen und Eingeständnissen totalen Kontrollverlusts, was den Fortgang der Pandemie betrifft, macht mich wahnsinnig. Seit fast zwei Jahren geht das nun so!“ rief Horst.

 

„Dann lass uns hier und jetzt die Illusion, dass wir dieses Virus und auch kommende andere jemals beherrschen werden können, begraben“, schlug Ahmet vor.

 

„Warum nicht? Ich bin dabei! Dieses heillose Unterfangen mit Gewalt eine Natur beherrschen zu wollen, deren Teil auch wir sind, treibt uns ja augenscheinlich schneller in den gesellschaftlichen, moralischen und zwischenmenschlichen Bankrott als ein Virus das jemals vermöchte.“